ZDF "Am Puls"

Sarah Tacke im Gespräch: Was blieb von Angela Merkels "Wir schaffen das"?

Aktualisiert:

von André M. A.

Hoffnung, Enttäuschung, Realität - zehn Jahre Migration aus Sicht von Sarah Tacke.

Bild: ZDF/ Florian Lengert


2015 prägte Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" eine ganze Ära. Zehn Jahre später zieht Journalistin Sarah Tacke in der neuen "Am Puls"-Doku Bilanz. Im Interview spricht sie über Erfolge, Probleme und warum Deutschland dringend genauer hinschauen muss.

Ihre Doku beschäftigt sich mit der historischen Aussage "Wir schaffen das" von Angela Merkel. Was meinen Sie zehn Jahr später: Haben wir es geschafft?

Sarah Tacke: Die Frage ist: Was wollten wir schaffen? Wenn wir es schaffen wollten, Millionen Menschen aus dem arabischen Raum zu helfen, sie in Deutschland unterzubringen und zu versorgen, dann haben wir es geschafft. Wenn wir aber schaffen wollten, sie zu integrieren in den Arbeitsmarkt, in die Gesellschaft, ohne große gesellschaftliche Spannungen, ohne eine große Belastung der Sozial- und Krankensysteme und einen Anstieg der Kriminalität, dann haben wir es nicht geschafft.

Was hat Sie in diesen zehn Jahren positiv überrascht - und wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?“

Sarah Tacke: Was es heißt, aus einer anderen Kultur zu kommen, habe ich durch diese Drehreise noch einmal ganz anders erlebt. Deswegen ist für mich der größte Erfolg, dass wir viele Menschen aus einer anderen Kultur in die Gesellschaft aufgenommen haben: in Sozialsysteme, in den Arbeitsmarkt, in Wohnungen, in die Nachbarschaft, in Kitas und Schulen. Das ist uns aus staatlicher Sicht sehr gelungen – ein enormer bürokratischer und finanzieller Aufwand. Beeindruckt hat mich dabei aber vor allem, wie viele Menschen privat geholfen haben.

Was uns nicht gelungen ist, ist, dass noch mehr Menschen kulturell, gesellschaftlich und im Arbeitsmarkt angekommen sind. Das ist unter anderem ein Versagen auf staatlicher Seite – wir hätten früher klarere Strukturen schaffen müssen, etwa durch bessere Vernetzung und digitale Ausländerbehörden. Wenn Menschen aus einer fremden Kultur in einem neuen Land ankommen, müssen sie eng begleitet werden. Menschen brauchen in erster Linie Menschen, aber auch staatliche Unterstützung – und da waren wir nicht gut genug und sind es bis heute nicht.

Sarah Tacke im Gespräch mit Familie Lafi.

Bild: ZDF und Sebastian Wagner


Für Ihren Film haben Sie mit Menschen gesprochen, die neu hierhergekommen sind. Welche Begegnung sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Sarah Tacke: Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir zwei Begegnungen. Zum einen Niro, der 2015 aus Syrien kam. Er spricht nicht nur fließend Deutsch, sondern sogar starkes Fränkisch, so, dass man fast vergisst, dass er erst vor zehn Jahren hergekommen ist. Niro hat sein Lehramtsexamen bestanden und wird jetzt Lehrer. Und trotzdem erlebt er Rassismus, etwa bei der Wohnungssuche. Er sagt, viele denken sofort, er sei ein Terrorist, wenn sie seinen Namen hören. Deshalb hat er sogar seinen arabischen Nachnamen Mohammed Shekh Youssef abgelegt und heißt jetzt Niro Degen. Niro hat mir gezeigt, wie krass man sich innerhalb von nur zehn Jahren integrieren kann.

Zum anderen habe ich einen jungen Iraker in Regensburg getroffen, der ebenfalls 2015 kam, aber inzwischen viereinhalb Jahre im Gefängnis saß, auch wegen schwerer Gewaltverbrechen. Er hatte die gleichen Chancen wie Niro, doch der Wille ist entscheidend und die Menschen, auf die man trifft. Was ich für mich mitgenommen und verstanden habe, ist, dass Integration anstrengend ist und zwar für beide Seiten.

Sarah Tacke und Niro Degen im Restaurant.

Bild: ZDF und Leonard Bendix


Ein Teil Ihres Films beschäftigt sich mit der Frage, warum ausländische Tatverdächtige in der Kriminalstatistik überrepräsentiert sind. Was war Ihnen wichtig bei der journalistischen Einordnung dieses heiklen Themas?

Sarah Tacke: Uns war wichtig zu sagen und zu zeigen, was ist. Deshalb sind wir nach Regensburg gefahren. Denn dort sind zuletzt immer mehr Gewaltverbrechen begangen worden und das vor allem durch zugewanderte Tatverdächtige. Der Bahnhof Regensburg ist deshalb jetzt zum "gefährdeten Objekt" erklärt worden, denn so kann jetzt die Polizei leichter kontrollieren, um Straftaten zu verhindern. Dort habe ich eine Einsatz-Nacht der Bundespolizei begleitet und erlebt, was hinter den Zahlen der Kriminalstatistik steckt.

Das Wort Willkommenskultur spielte damals eine sehr prägende Rolle. Was ist heute von dieser Willkommenskultur noch übrig geblieben?

Sarah Tacke: Bevor es mit dem Film losging, habe ich einen Aufruf gemacht, und mehrere tausend Menschen haben mir von ihren Erlebnissen geschrieben. Viele, die mit der Willkommenskultur gestartet sind und sich engagiert haben, berichteten mir auch von negativen Erfahrungen. Was mich dabei nachhaltig irritiert hat, war, dass viele gleich betonten: "Aber ich bin nicht rechts!" Wir müssen davon wegkommen, dass Menschen, die nicht rassistisch sind, sondern sogar Teil dieser Willkommenskultur waren, Bauchschmerzen haben, ihre Kritik zu äußern. Ein Gelingen kann nur entstehen, wenn wir Probleme benennen und lösen. Die große Euphorie und das Engagement vom Anfang sind weniger geworden, und mich hat viel Enttäuschung erreicht. Viele hatten unter "Wir schaffen das" ein echtes Gelingen erwartet – mehr Integration und ein Zusammenwachsen der Kulturen.

Ihr Film beschäftigt sich auch mit der Frage "Wie können wir es in der Zukunft schaffen?" - Was ist Ihre ganz persönliche Antwort darauf?

Sarah Tacke: Das finde ich ganz schwierig zu beantworten. Ich wollte dafür zum Beispiel eine Zahlenbasis haben, um zu verstehen, wie groß die syrische, türkische, irakische und afghanische Community im Jahr 2050 sein wird. Dazu gibt es jedoch keine Prognosen. Wir beschäftigen uns gar nicht damit. Es gibt nur eine Prognose aus dem Jahr 2017 von einem amerikanischen unabhängigen Institut – in Deutschland ist keine zu finden. Und ich finde, das zeigt schon, wo das Problem liegt, denn wir müssen uns damit beschäftigen. Hier sind Millionen Menschen aus einem anderen Kulturkreis angekommen. Die meisten werden nicht zurück nach Syrien oder in ihre Herkunftsländer gehen, sondern bleiben wollen. Und diese Community wird wachsen. Wenn wir nicht rechtzeitig verstehen, wer hier lebt, wie sich das entwickelt und dafür die passenden Strukturen schaffen, könnte das für die Gesellschaft ein noch größeres Problem werden.

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