"taff" ist zu Gast im Milieu
Macht auf der Reeperbahn: Wer die wahre Kontrolle über Hamburgs Kiez hat
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von lnfSie ist eine der bekanntesten Straßen Deutschlands: die Reeperbahn. Zwischen Party, Alkohol und Prostitution gibt es hier im "Milieu" Persönlichkeiten, die fast jede:r kennt. "taff" hat einen Blick auf die wahren Kiez-Größen geworfen und bei ihnen nachgefragt: Was macht sie zu Legenden?
"taff" hat die Reeperbahn-Legenden getroffen:
Kaum eine andere deutsche Straße leuchtet so hell wie die Reeperbahn: Ein knapper Kilometer Straße voller Bars, Gastronomie und Theater, aber auch Diskotheken, Tabledance-Clubs und Bordelle – umrahmt von LED-Schildern, Stroboskop-Lichtern und Neon-Röhren.
Doch die Reeperbahn leuchtet nicht mehr so rot wie früher, als sie noch das Herz des Rotlichtviertels war, statt der Partymeile, die sie heute ist. So beschreibt es zumindest das Reeperbahn-Urgestein, das seit Jahrzehnten dort leibt und lebt.
Mit 18 kam er auf den Kiez, seitdem ist er nicht mehr weggegangen. Heute ist Carsten Marek 64 Jahre alt und hier kennt ihn jede:r. Im Dreiergespann mit Klaus Barkowsky und Thomas Born beherrschte er mit seinen "Hamburger Jungs" Anfang der 2000er das Rotlichtmilieu.
Er war Bordell-Betreiber und ist heute Gastronom, führt die Kult-Kneipe "Zur Ritze". Dort gibt es einen Bereich, der ausschließlich Kiez-Größen vorbehalten ist, abgegrenzt durch einen roten Vorhang: "Wir haben 'nen neuen hingemacht, da sind jetzt die ganzen Einschusslöcher weg", scherzt er mit der Kamera. "Der alte sah aus wie ’n Schweizer Käse!"
Etwas außerhalb betreibt er den FKK-Beachclub "Babylon", der früher das größte Bordell Deutschlands war. Wegen der Corona-Pandemie musste dieser jedoch zeitweise schließen und wurde als Ü18-"Beach Wellness Center" neu eröffnet – ohne käuflichen Sex. 2021 hat Carsten Marek mitten auf der Reeperbahn zudem eine "Edelcurrywurst-Bude" eröffnet.
Als Kiez-Urgestein gehört er zu einer vom Aussterben bedrohten Art:
Von denen, mit denen ich angefangen habe, is‘ gar keiner mehr da. Tja, ich hab eben weitergemacht.
Auf die Frage, wo er sich in zehn Jahren sieht, antwortet er: "Ich bin St.-Paulianer – ich wollte mit 30 aufhören, dann mit 40, dann mit 50, jetzt bin ich über 60 … wir reden noch mal, wenn ich 70 bin."
Es wird gemunkelt, dass Marek heute der "heimliche Chef" vom Kiez sei. Doch er prahlt nicht damit, sondern sieht die Sache eher anders. Wer für ihn eine Reeperbahn-Legende ist, verrät er im "taff"-Beitrag auf Joyn.
"Milliarden-Mike” sieht sich sehr wohl als Legende: an seinem Handgelenk blitzt eine goldene Uhr, auf seiner Nase sitzt eine dicke Sonnenbrille, als er im "taff"-Beitrag aus seinem schneeweißen Jaguar steigt. Obwohl er aus ärmlichen Verhältnissen kommt, inszeniert sich Mike Wappler als reich und spendabel: Er kam ebenfalls mit 18 Jahren auf den Kiez und prompt begann seine Karriere als Zuhälter. "Es gab jeden Tag 1.500 € pro Frau, da kann man sich ja ausrechnen, was ich an Geld verdient hab." Er führt fort:
Ich hab so viel Geld verdient, dass ich 'nen Container im Puff aufstellen und einmal die Woche abholen lassen musste.
In den 80ern war er wohl der größte Zuhälterboss auf der Reeperbahn, sein Revier war die legendäre Herbertstraße. Diese Karriere brach er aber ab, als Gewalt auf dem Kiez Einzug hielt - das sei nie sein Ding gewesen. Sein neues Geschäftsmodell: Anlageberater. Oder besser gesagt, professioneller Betrüger. Dieser Job brachte ihm gleichwohl hohe Summen ein, aber auch knapp 20 Jahre hinter Gittern wegen mehrfachen Betruges, Scheingeschäften und Falschgeldbesitz.
Heute ist er nur noch zu Gast auf der Reeperbahn – es ist längst nicht mehr "sein" Kiez von früher: "Das Milieu hat sich total verändert. Das ist heute nur noch Partymeile!", sagt er kopfschüttelnd.
Jan Sander ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Kiez-Größe: braungebrannt, muskelbepackt, garantiert breiter als so mancher Türsteher. Dabei will er mit dem Kiez absolut nicht mehr in Verbindung gebracht werden.
Anfang der 2000er betrieb er einen Sauna-Club und ein Bordell, war auch mal Zuhälter. Danach arbeitete er zwölf Jahre lang undercover als V-Mann und jagte Verbrecher in Hamburgs Rotlichtmilieu und der Rockerszene. Fazit: Jede:r kannte "Miami Gianni", aber nicht jede:r mochte ihn, gelinde ausgedrückt. Es kam zu immer mehr Konflikten im Milieu, mit dem Höhepunkt, dass ein Auftragsmörder auf ihn angesetzt wurde, der ihn mit einem Kopfschuss aus dem Weg räumen sollte. Doch er überlebte und zog prompt den Schlussstrich.
Jan Sander outete sich als V-Mann und musste sechs Jahre lang im Knast für seine kriminelle Vergangenheit büßen. Danach hat er im Handwerk Fuß gefasst und ein Bauunternehmen gegründet. Heute lebt er in Spanien mit seiner Freundin, die Pferdehändlerin ist. Sie weiß, dass "Miami Gianni" Vergangenheit ist und beteuert, dass sie sich in den Menschen verliebt hat und nicht in die Kunstfigur.
Doch was würde passieren, wenn "Miami Gianni" nochmal einen Fuß auf die Reeperbahn setzt? Obwohl er sich erst nicht äußern wollte, hat er im Gespräch mit "taff" erzählt, was er jetzt über den Kiez denkt.
Sie ist die "Sauberfrau" vom Kiez. Carmen Delhougne, ist diejenige, die am Tag danach hinter den Feierwütigen aufräumt. Die 57-jährige gelernte Friseurin hat einen langen Weg hinter sich, aber vom Kiez kam sie nie weg. In den 80ern war sie Tabledance-Tänzerin, hat danach in der Gastronomie gearbeitet und sich als Tätowiererin selbstständig gemacht, bevor sie Reinigungskraft wurde. Aber nicht irgendwo, sondern in der Show-Bar von Olivia Jones und im Panoptikum, dem größten und ältesten Wachsfigurenkabinett Deutschlands.
Für viele ist Carmen die "gute Seele" der Reeperbahn – immer ehrlich und gerecht, nie kriminell. Und das, obwohl ihr Leben nicht einfach war. Sie hatte eine kranke Mutter, die starb, als sie 17 Jahre alt war, harte Jobs und nun ist ihr Freund René schwer an Krebs erkrankt. Sie kann nicht wirklich darüber reden, sofort steigen ihr Tränen in die Augen. Dabei hat sie sich nie beschwert und quittiert Fragen nach ihrer Vergangenheit nur mit "Das Leben ist hart." Und das trifft auf viele auf dem Kiez zu.
Für "Kiez-Gestrandete", ohne Zuhause, dafür mit vielen Problemen, ist Olli Zeriadtke oft der Retter in der Not. Auch er ist Reeperbahn-Urgestein, mit einem Herz aus Gold. Er ist weder Sozialarbeiter noch Bewährungshelfer. Ganz kiezgerecht war er Barmann, Türsteher und Bordell-Wirtschafter, heute besitzt er "Ollis Regenbogen-Haus": Fünf Stockwerke, oberhalb der berühmt-berüchtigten "Erotik-Boutique Bizarre", die Fassade ist passend bunt gestrichen. Er bietet dort 57 Zimmer an für diejenigen, die sonst keine Unterkunft hätten. Und er ist immer ausgebucht.
Je weniger du hast, desto wahrscheinlicher bist du in meinem Wohnprojekt drin!
Er will die dunkle Seite der Reeperbahn etwas aufhellen, denn für ihn ist St. Pauli der schönste Stadtteil Hamburgs – und sein Zuhause.