Reeperbahn-Legenden

Der Hamburger Kiez im Wandel: Vom Kultviertel zur Partymeile

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von lnf
Der Kiez zieht Menschen schon seit Jahrhunderten wie ein Magnet an. Doch er ist nicht mehr das, was er einmal war ...

Der Kiez zieht Menschen schon seit Jahrhunderten wie ein Magnet an. Doch er ist nicht mehr das, was er einmal war - zumindest laut einem echten Reeperbahn-Urgestein.

Bild: ddp


St. Pauli ist der bunte Hund unter den Hamburger Stadtteilen. Doch die Reeperbahn leuchtet nicht mehr so rot wie früher, als sie noch das Herz des Rotlichtviertels war statt der Partymeile, die sie heute ist. So beschreibt es zumindest das Reeperbahn-Urgestein, das seit Jahrzehnten dort leibt und lebt.


Der Stadtteil St. Pauli, wo sich die Reeperbahn befindet, ist heute mit seinen 2,6 Quadratkilometern Fläche gerade einmal so groß wie der Berliner Wannsee. Und doch ist er Hamburgs, vielleicht sogar Deutschlands Zentrum für Party, Bordells und Pillen – seine Geschichte ist eine wahre Achterbahnfahrt der Milieus.

Die Historie der Reeperbahn

Schon im 17. Jahrhundert begann in St. Pauli, damals noch Vorort von Hamburg, die Tradition der Amüsierbetriebe mit einem Spielbudenplatz und einem Jahrmarkt. Wegen Platzmangel, Wasserverschmutzung oder Lärmbelästigung trieb es aber nicht nur Gastwirte und Prostituierte aus der Stadt, sondern auch die Seilermacher bzw. Reepschläger. Von denjenigen, die dort ihre Schiffstaue herstellten, leitet sich auch der Name der 930 Meter langen Reeperbahn ab.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde unter französischer Besetzung der Vorort vollständig abgerissen, aber kaum waren sie weg, wurde er sehr schnell wieder aufgebaut – das Amüsierviertel wurde größer und schöner. Es gab unterschiedlichste Attraktionen, unter anderem natürlich: Bordelle. Zu dieser Zeit gab es 19 an der Zahl, in denen 158 Prostituierte arbeiteten. Dass 1861 die Torsperre zwischen Stadt und Vorstadt aufgehoben wurde, verhalf der Reeperbahn und ihren Amüsierbetrieben letztendlich zum Aufschwung.

Nach der finanziellen Ebbe im Ersten Weltkrieg, Wirtschaftskrise und Inflation füllten die "wilden Zwanzigern" schnell wieder die Kassen der Reeperbahn. Doch auch der Zweite Weltkrieg nahm Hamburg gewaltig mit, sodass erst ab den 1950ern das Vergnügungsviertel wieder richtig Vergnügen bereitete – dank Auftritte englischer Musikgruppen wie den Beatles im legendären "Star Club".

In den 1970er und 1980er Jahren kam es dann zu einem deutlichen kulturellen Niedergang des Stadtteils: Der Kiez galt als Synonym für Gewalt und wurde dank Hafenarbeitern aus Übersee zum Drogenimportplatz - ein Schauplatz für Bandenkriege, an dem Auftragsmorde auf der Tagesordnung standen. Für die damals größte Zuhältervereinigung Deutschlands, die "GMBH", arbeiteten hunderte Prostituierte. Newcomer wie die "Nutella-Bande" rüsteten mit Waffen auf. Selbst Zuhälterboss Mike Wappler alias Milliarden-Mike verabschiedete sich von seinem Revier, der legendären Herbertstraße, als die Gewalt dort einzog.

Ich wollte auf einfachem Weg viel Geld verdienen, und ging ja auch etliche Jahre gut, und dann kamen AIDS und Schießereien und da bin ich ausgestiegen.

Mike Wappler alias Milliarden-Mike

Gleichzeitig ging das Geschäft der Bordelle mit dem Aufkommen von erotischen Internetfilmen zurück, das Ergebnis: Bis in die 1990er Jahre war St. Pauli eines der ärmsten Stadtviertel Europas.

Der Kiez: Von Puff zu Party

Seitdem habe sich der Kiez weiter verändert: Die roten Lichter wurden bunter, es gab immer mehr Discos und Clubs – der Kiez wurde vom kulturellen Vergnügungsangebot zum Schandfleck und dann zur reizvollen Touristenattraktion. Carmen Delhounge, die liebevoll als die "Sauberfrau vom Kiez" bezeichnet wird, hat diese letzte Veränderung hautnah miterlebt. Sie war früher als Kellnerin tätig und weiß, wie viele Bars und Restaurants aufgrund der wachsenden Konkurrenz und neuen Verhältnissen in Angebot und Nachfrage schließen mussten: "Also an der Freiheit wirds vielleicht noch gehen, aber die Läden, die hier rings rum sind, ich glaub’, die haben das echt schwer."

Sein Laden ist seit Jahrzehnten etabliert: Carsten Marek, Betreiber der Kult-Kneipe "Zur Ritze" und Ex-Zuhälter stellt fest: "Von denen, mit denen ich angefangen habe, is‘ gar keiner mehr da, tja, ich hab eben weitergemacht." Auch Mike Wappler ist nicht begeistert von den neusten Veränderungen auf dem Kiez: "Das fängt bei den Jungs an, gut, die alten sind ausgestorben, aber das Milieu hat sich total verändert. Das ist heute nur noch Partymeile. Früher konntest du 'nen Luden auf 100 Meter erkennen, heute ham 'se Bomberjacke an und 'ne Rolex, wo schon das Gold abgeht – das sind Blender, traurig."

Damals sei die Reeperbahn zudem verruchter gewesen, mit illegalen Geschäften aller Art, sagt Waldemar Paulsen, ehemaliger Zivil-Fahnder. Mit welchen Schmuggelaktionen sich damals Geld verdienen ließ, erfährst du im "taff"-Beitrag "Reeperbahn Legenden".


Ist die Reeperbahn soft geworden?

Der Kiez ist Touristenmagnet durch und durch: billiger Alkohol, bunte Lichter, kuriose Läden. Das heißt nicht, dass nichts mehr von der Gewalt aus den 90ern übrig ist. Es wird nach wie vor Überfällen, Taschendieben und anderen Gewaltdelikten gewarnt. Die "Kiezregeln" gilt es zu beachten, auch als Tourist. Im Report der Polizei Hamburg steht, dass die Anzahl der erfassten Delikte im Bereich der Gewaltkriminalität im Jahr 2023 um 10,7 Prozent stieg im Gegensatz zum Vorjahr – ein Großteil davon sei zurückzuführen auf St. Pauli. Waldemar Paulsen kennt diese dunkle Seite der Reeperbahn nur zu gut und erklärt im Interview mit "taff": "St. Pauli wird immer so glorifiziert heutzutage, das iss'es aber nicht und wir haben auch damals nicht die guten Zeiten gehabt, wie man immer proklamiert."

Eine andere Kiezlegende musste am eigenen Leib erfahren, wie grausam das Milieu ist: "Miami Gianni". Schon 2014 erzählte er im Interview mit "taff", dass sehr viele Menschen großen Schaden durch den Kiez erlitten haben. Zehn Jahre später hat er erneut mit Reportern gesprochen – in seiner neuen Wahlheimat in Spanien, denn auf dem Kiez lässt er sich nicht mehr blicken. Welche Geschichten der Auswanderer noch zu erzählen hat und was er wegen der Reeperbahn alles durchmachen musste, erfährst du im Beitrag auf Joyn.

Dabei gibt es auch ganz andere Meinungen: Olli Zeriadtke, der in seinem "Regenbogen-Haus" Wohnungen für Obdachlose auf dem Kiez anbietet, ist ein wahrer St. Pauli-Fan: "So von Sonntag bis Donnerstag, also ohne die ganzen Touristen, ist das der schönste Stadtteil von Hamburg – dabei bleib‘ ich", stellt Olli Zeriadtke fest. Aber auch Ronny Petzet, der die Bar "Chez Ronny" betreibt, kam vor 14 Jahren aus Sachsen auf den Kiez und er fühlt sich hier pudelwohl:

Hier kann man offen sein, die Leute nehmen einem nicht alles so krumm – Hier mischen sich ja alle Kulturen.

Ronny Petzet

Den Kiez kann man lieben oder hassen – entgehen lassen sollte man ihn sich aber auf keinen Fall.


Die Reeperbahn-Legenden im Interview:



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